"Ein Jahr ohne Ãœberraschungen" - Eine Rezension des Jahrbuch "Extremismus & Demokratie"

von Maximilian Fuhrmann (Uni Bremen)

 

Ende des Jahres 2014 erschien das Jahrbuch Extremismus & Demokratie zum 26. Mal. Seit ebenso vielen Jahren wird es von Eckhard Jesse und Uwe Backes herausgegeben, Alexander Gallus ist seit 2009 dabei. Der Aufbau des Buches hat sich im Laufe der Jahre kaum geändert und gliedert sich in die Hauptrubriken »Analysen«, »Daten, Dokumente, Dossiers« und »Literatur«. Auf knapp 200 Seiten werden Werke besprochen, die im Jahr 2013 erschienen sind und im weiteren Sinne die Felder Extremismus und Demokratie abdecken. Auch die insgesamt 13 Hauptartikel sind inhaltlich breit gestreut und bieten keinerlei Bezüge zueinander, weswegen ein Roter Faden nicht zu erkennen ist. Die Klammer des Jahrbuchs ist mit den ebenso weiten wie umstrittenen Begriffen »Extremismus« und »Demokratie« wenig greifbar.

Das Jahrbuch wird mit dem Verweis auf die NSU-Untersuchungsausschüsse und Urteile hinsichtlich der Überwachung von Politiker_innen der Linkspartei eingeleitet, was Anlass gibt »in zwei Analysen Grundsatzfragen des Demokratieschutzes zu thematisieren« (S. 7). In der einen Analyse widmet sich Patrick Stellbrink dem Juristen und sozialdemokratischen Reichsjustizminister Gustav Radbruch (1878-1949), und in der zweiten kritisiert Uwe Backes die Ausführungen von Claus Leggewie und Horst Meier, die eine Abschaffung des Verfassungsschutzes fordern.

Backes bestreitet, dass es sich bei der bundesdeutschen Variante der streitbaren Demokratie um einen »Sonderweg« handelt und weist in einem zweiten Teil die verschiedenen Kritikpunkte am Verfassungsschutz zurück. Dieser sei weder auf dem rechten Auge blind, noch unkontrolliert oder intransparent. Überraschenderweise spart er den Hauptkritikpunkt von Leggewie und Meier aus. Diese monieren, dass eine Vorverlagerung des Demokratieschutzes auf »extremistische Bestrebungen« eine unverhältnismäßige Beschneidung von Grundrechten darstellt, da somit Bürger_innen von nachrichtendienstlicher Überwachung und dem Entzug von Grundrechten betroffen sein können, ohne eine Straftat begangen zu haben. Sie sprechen sich für einen gewaltorientierten Republikschutz aus, verbunden mit dem Ausbau des polizeilichen Staatsschutzes. Diese Alternative diskutiert Backes in einem dritten Teil und deutet mehrfach an, dass durch einen vergleichbar schwachen Demokratieschutz schon die Weimarer Republik gescheitert sei. Auf die Frage aber, ob die stabilisierte Demokratie der Bundesrepublik der illiberalen Schutzmechanismen bedarf, welche für eine post-nationalsozialistische Gesellschaft der späten 40er und 50er vorgesehen waren, geht Backes nicht ein.

In einer weiteren Analyse widmet sich Manuel Becker dem Verhältnis von Geschichtspolitik und Politikwissenschaften. Kenntnisreich führt er die Bedeutung des Begriffs »Geschichtspolitik« in der Bundesrepublik aus und systematisiert verschiedene geschichtspolitische Felder. Er unterscheidet einen »Zugriff auf Geschichte als Element des politischen Handelns [der] ›instrumentell‹ erfolgt« (S. 63) von einem materiellen Zugriff. Letzteren differenziert er in Vergangenheitspolitik und Erinnerungspolitik. Ein wenig aus dem Rahmen fällt der Abschnitt »Geschichtspolitik in der vergleichenden Extremismus- und Diktaturforschung«, der gleichzeitig den problematischen Analyseblick offenbart, wie er von einem Großteil der Extremismusforschung eingenommen wird: Becker skizziert kurz die Umdeutung der Geschichte durch Rechtsextremist_innen im Sinne ihrer aktuellen Politik. Mit »dieser ›Indienstnahme‹ der Vergangenheit für politische Zwecke« will er eine »strukturelle Ähnlichkeit zwischen Rechts- und Linksextremisten« ausmachen (S. 61). Dies begründet er unter anderem mit der instrumentellen Bezugnahme der RAF auf den Nationalsozialismus. Dass aber eine solche Bezugnahme zum Repertoire vieler Politiker_innen gehört, deren prominentestes Beispiel Joschka Fischer im Vorfeld des Kosovokriegs 1999 ist, erwähnt Becker an dieser Stelle nicht. Er sieht also eine strukturelle Ähnlichkeit, wo keine exklusive ist, da von vornherein sein Blick nur auf jene politischen Strömungen gerichtet ist, deren Ähnlichkeit er zeigen möchte. Auch Äpfel und Hagebutten weisen als Kernobst gewisse Ähnlichkeiten auf, die sich aber bei einem Blick auf die gesamte Obstauslage relativieren. Ohne den Exkurs auf die Extremismusforschung hätte der sonst lesenswerte Artikel von Becker mehr gewonnen als verloren.

Ein weiterer Artikel, der ohne den Versuch ihn ins extremismustheoretische Korsett zu pressen gewonnen hätte, ist das Länderportrait zu Island. Christian Nestler zeichnet ein fundiertes Bild von der politischen Landschaft, welche durch die Finanzkrise 2007 starke Veränderungen erfuhr. Unter den Zwischenüberschriften »Rechtsextremismus« und »Linksextremismus« diskutiert er die Entwicklungen auf der rechten, respektive linken Seite des politischen Spektrums, um zu dem Schluss zu kommen, dass es weder relevante rechts- noch linksextreme Parteien gibt. Inhalt und Überschrift klaffen weit auseinander, da die Einpassung des Länderbeispiels in das vorgefertigte Schema des Jahrbuchs offensichtlich nicht aufgeht. Wie andere Länderberichte in den Jahrbüchern auch klammert Nestler die Fragen aus, wie bzw. ob die Grenze zwischen Extremismus und Demokratie oder Instrumente der streitbaren Demokatie im Land selber verhandelt werden. So verbleibt der Beitrag bei einem Blick von außen durch ein Schema, welches sich nicht sinnvoll auf das Beispiel anwenden lässt.

Durchwegs lesenswert sind die Beiträge von Kai Hirschmann und Judith Faessler. Hirschmann beleuchtet die Szene der Djahadistinnen und nimmt dabei die kontroversen Diskussionen innerhalb der islamisch-terroristischen Szene über die Rolle von Frauen in seine Darstellung auf. Dabei richtet er sein Augenmerk besonders auf Konvertitinnen und westlich sozialisierte Muslima, denen »etwas mehr geboten werden« muss »als ein Dasein als devote Anhängsel der Männer im Diesseits und das Paradies im Jenseits an der Seite ihrer Ehemänner« (S. 187). Faesslers Artikel stellt das von Verfassungsschutzbehörden beobachtete Internetportal muslimmarkt vor. Neben einer detaillierten Beschreibung des Portals und Informationen zu ihren Gründern liefert Faessler eine kurze Analyse und weitere Literaturhinweise. Ihre Einschätzungen zu den (vielleicht falsch gestellten) Fragen, ob das Portal desintegrativ wirke oder die Bildung einer »Parallelgesellschaft« fördert wirken reichlich spekulativ, wohingegen die Einschätzungen zur antisemitischen Ausrichtung des Portals sehr viel stichhaltiger sind.

Nicht weniger informativ ist der Artikel von Jan Freitag über die heterogene Reichsbürgerbewegung. Diese ist vor allem in den neuen Bundesländern aktiv und seit einigen Jahren auch im Visier des Verfassungsschutzes, v.a. in Brandenburg. Freitag stellt die Geschichte und Ideologie der Bewegung dar, diskutiert ihre Nähe zum Rechtsextremismus und das daraus folgende Gefährdungspotential. Er benennt verschiedene Ideologieelemente, die Überschneidungen zur extremen Rechten und erwähnt Annäherungsversuche zu gewaltbereiten Gruppen. Dabei muss er weitestgehend auf behördliche Einschätzungen zurückgreifen, was darauf verweist, dass eine sozialwissenschaftliche Forschung über Ideologie, Attraktivität und Zusammensetzung der Reichsbürgerbewegung noch aussteht.

Mit einem Ereignis der linken Szene beschäftigt sich Karsten Dustin Hoffmann. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und linken Demonstrant_innen am 21.12.2013 in Hamburg stellt er als »repräsentativen Einzelfall« vor, um »generelle Tendenzen« der »militanten Linken« aufzuzeigen. Seiner These wenig förderlich ist eine mehrseitige Abhandlung die zeigt, dass am 21.12.2013 mit der Verschränkung dreier stadtpolitischer Themen (eine angedrohte Räumung des autonomen Zentrums Rote Flora, anhaltende Flüchtlingsproteste, geplanter Abriss der »Esso-Häuser«) eine sehr spezielle Situation geschaffen wurde. Als generelle Tendenz sieht er eine stärkere Bedeutung überregionaler Vernetzung der »militanten Linken«, die Hoffmann mit der Jahrtausendwende ausmacht, wobei sich ausgerechnet 2001 der wichtigste Zusammenschluss, die Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation, auflöste. Ungenügend belegt bleibt auch seine These, dass »die Mehrheit der Militanten Gewalt gegen Menschen grundsätzlich befürwortet« (S. 137). Als Quelle dienen drei Seiten aus einem Aufsatz von ihm selbst. Nicht beachtet werden beispielsweise die ausführlichen Studien von Sebastian Haunss, Klaus Hoffmann-Holland und Nils Schuhmacher oder der Sammelband des Deutschen Jugendinstituts »›linke‹ Militanz im Jugendalter«. Die pauschale Feststellung »Die militante Linke betrachtet die Bundesrepublik als Vorstufe des Faschismus« scheint für Hoffmann keinerlei Erläuterung oder Verweise zu bedürfen. Durchaus interessant ist hingegen seine Feststellung, dass sich in den letzten Jahren vermehrt Gruppen antiimperialistischer Ausrichtung bildeten. Von einer »Trendwende« oder gar »generellen Tendenz« in der Ideologie der »militanten Linken« kann jedoch nicht gesprochen werden. Vielmehr scheint der Fokus des Autors auf Hamburg Ausschlag für diese These gegeben zu haben. Hoffmann hat für seinen Artikel viele Aussagen aus offen zugänglichen linken Blogs sowie Beispiele »linker Militanz« zusammengetragen. Die Folgerungen, die er daraus zieht können aber nicht überzeugen, da die Gewichtung und Kontextualisierung der Quellen lückenhaft ist. Zudem finden wissenschaftliche Arbeiten aus diesem Feld keine Beachtung; sie würden die Zweifel an den Schlüssen des Autors mehren.

Die Artikel zu Dokumentation 2013 (über die Alternative für Deutschland), Organisation 2013 (über die Entwicklungen extremistischer Organisationen) und Wahlen 2013 fördern wenig Neues zu Tage, was auch daran liegt, dass das Jahrbuch erst spät im Folgejahr erscheint. Zudem finden sich ein Beitrag von Frank Decker mit zehn Ideen für eine Demokratiereform und ein Porträt über Diether Dehm, verfasst von Jürgen P. Lang im Jahrbuch 2014.

Insgesamt birgt das Buch wenige Überraschungen. Die inhaltliche Nähe der Extremismusforschung zu den Sicherheitsbehörden zeigt sich erneut deutlich. Einige interessante Artikel, vor allem von jungen Wissenschaftler_innen, wären gewinnbringender zu lesen, folgten sie nicht den Prämissen der Extremismusforschung. Deren umstrittene Annahmen sind den Artikeln fast ausnahmslos vorausgesetzt und werden in den Jahrbüchern nicht wirklich kontrovers diskutiert. Somit wird auch das vorliegende Buch nur in einer kleinen wissenschaftlichen Community wahrgenommen werden. Es steht zu vermuten, dass es den Protagonist_innen wie auch in den letzten Jahren dennoch gelingt, durch ihre Kontakte in die Politik, zu Stiftungen und Sicherheitsbehörden eine breitere Aufmerksamkeit für das Jahrbuch Extremismus & Demokratie herzustellen, als es seiner wissenschaftlichen Qualität gebühren würde.


 

 

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