Rezension des Jahrbuchs "Extremismus & Demokratie" 2015

 

Im Januar 2016 erschien die 27. Ausgabe des Jahrbuchs "Extremismus & Demokratie". Es gliedert sich wie in den Jahren zuvor in die drei Kapitel "Analysen", "Daten, Dokumente, Dossiers" und "Literatur". Für die vorliegende Rezension ist lediglich das Analysekapitel von Interesse, da sich die anderen Kapitel auf Darstellungen bzw. Rezensionen beschränken.

Von den vier Beiträgen in diesem Kapitel, gehe ich auf zwei knapp, und auf die beiden anderen ausführlicher ein. Besondere Aufmerksamkeit verdienen der Artikel "Liberalität und Äquidistanz in Deutschlands politischer Kultur" von Tom Mannewitz, da hier zentrale Fragen der Extremismustheorie aufgeworfen werden, sowie Armin Pfahl-Traughbers Abhandlung über die brisante aktuelle Frage der "Nicht-Erkennung des NSU-Rechtsterrorismus".

In einer weiteren Analyse beleuchtet Alexander Gallus, einer der Herausgeber des Jahrbuchs, in seinem Artikel "Zur Historisierung und Aktualität des 20. Jahrhunderts" das Zusammenspiel von Wissen und Ideologie, wobei sein Fokus auf der Entwicklung der Verknüpfung von Technokratie und Politik liegt.

Der Bonner Politikwissenschaftler Frank Decker zeichnet den Weg der populistischen Parteien in Europa "vom Protestphänomen zur politischen Dauererscheinung" nach. Er behandelt dabei knapp die Erfolgsgeschichte, Entstehungshintergründe, ideologischen Spielarten, organisatorischen Merkmale sowie die Wirkungen und Bekämpfungsstrategien dieser parteipolitischen Phänomene. Der Artikel gibt einen guten Überblick, kann aber aufgeworfene Fragen nicht zufriedenstellend beantworten. So leitet Decker aus seinem Populismusverständnis ab, dass dieser einen ideologischen Hang nach rechts habe, weswegen sich die Frage stelle, "ob es einen originären Linkspopulismus überhaupt geben kann" (S. 67). Die linkspopulistische Partei Spaniens, PODEMOS, erwähnt er zwar und verweist auf deren Bezugnahme auf die postmarxistischen Theoretiker_innen Ernesto Lauclau und Chantal Mouffe. Leider bleibt er aber bei einer Beschreibung der Partei stehen und versäumt eine Auseinandersetzung mit der - aus explizit linker Perspektive formulierten - Populismustheorie von Laclau und Mouffe. Diese Auseinandersetzung hätte eine interessante Antwort auf die aufgeworfene Frage geben können.

Tom Mannewitz, Juniorprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Chemnitz, untersucht die "Liberalität und Äquidistanz in Deutschlands politischer Kultur". Bei dem Aspekt der Liberalität geht es ihm vor allem darum, "ob eine Gesellschaft jene Meinungen im politischen Diskurs akzeptiert, denen sie jedwede Rechtmäßigkeit abspricht" (S. 38). Das Gebot der Äquidistanz fordere eine Gleichbehandlung der Feinde der Demokratie, unabhängig von ihren politischen Motiven. Dies sei eine Besonderheit der streitbaren Demokratie, deren Fürsprecher Mannewitz ist.

Seine Kernaussagen, die bundesdeutsche Gesellschaft sei in hohem Maße illiberal und verstoße gegen das Gebot der Äquidistanz, begründet er vornehmlich anhand Untersuchungen des International Social Survey Programms (ISSP). Da er seine Interpretationen auf lediglich drei Fragen (Items) aufbaut, lohnt sich ein Blick auf diese. 2004 wurde gefragt, ob es Rechtsextremisten ("people prejudiced against any racial or ethnic group", S. 40, FN 24) erlaubt sein sollte, öffentliche Veranstaltungen abzuhalten. 2008 wurde die gleiche Frage bezüglich religiösen Extremisten ("religious extremists" S. 40, FN 26) gestellt. 2006 wurde laut Mannewitz die Verbotsbefürwortung gegen "Linksextremismus" abgefragt. Hier lautet das Item: "There are some people whose views are considered extreme by the majority. Consider people who want to overthrow the government by revolution. Do you think such people should be allowed to hold public meetings to express their views?" (S. 40 FN 25)

Während seine Interpretation der ersten beiden Aussagen als gegen Rechtsextremismus und religiösen Extremismus gerichtete Items nachvollziehbar ist, zeigt sich hinsichtlich des dritten Items ein Widerspruch zwischen dem was abgefragt wurde und Mannewitz´ Interpretation. Denn es wurde keine inhaltliche, geschweige denn "linksextreme" Position verhandelt, sondern ein politisches Mittel, die Revolution. Darunter fallen folglich sowohl die bürgerlichen Revolutionen gegen die sozialistischen Regierungen in Osteuropa, als auch revolutionäre Bestrebungen von Faschisten gegen bürgerliche Gesellschaften. Somit werden auch seine, auf diese Interpretation aufbauenden, Analysen obsolet, da schlichtweg nicht das abgefragt wurde, was der Autor behauptet.

Werfen wir trotzdem ein Blick auf seine weiteren Ausführungen. Der Mangel an Äquidistanz in der politischen Kultur Deutschlands besteht laut Mannewitz darin, dass 92,5% der Befragten, Rechtsextremist_innen eine öffentliche Veranstaltung verbieten wollen, aber nur 30% den "Linksextremist_innen" (bzw. "people who want to overthrow the government by revolution"). Diesen Mangel glaubt er weiter damit belegen zu können, dass sich 2005 18% der Bundesbürger_innen vorstellen konnten, ein Wahlbündnis aus WASG und PDS zu wählen, aber "bei einem Pendant von rechtsaußen [bestehend aus einem Bündnis von NPD und DVU] waren es lediglich 4,3 Prozent" (S. 51). Für Mannewitz ist dieses Ergebnis "angesichts der doppelten Diktaturerfahrung ein überraschender Befund" (S. 51). Dadurch gibt der Autor indirekt Einblicke in die schlichte Analyse der Extremismusforschung. Die Gleichung DDR = Linksextremismus = WASG / PDS geht aus zahlreichen Gründen nicht auf. Im vorliegenden Fall stand mit der WASG / PDS ein Bündnis aus Gewerkschafter_innen, Sozialdemokrat_innen und kleinen Gruppen, die es nach wie vor wagen von Sozialismus zu sprechen, zur Wahl. Dieses Bündnis mit der DDR zu identifizieren ist empirisch ebenso wenig haltbar, wie die implizite Gleichsetzung von WASG / PDS mit einem neonazistisch geprägten angeblichen "Pendant von rechtsaußen".

Eine mangelnde Liberalität erkennt Mannewitz neben den hohen Zustimmungen für Versammlungsverbote gegen Rechtsextremist_innen auch in der Zustimmung von mehr als Dreivierteln der Bundesbürger_innen zu der Aussage "Political parties that wish to overthrow democracy should be banned" (S. 40 FN 27). Die Kritik an den Zustimmungswerten zu dieser Aussage steht im Widerspruch zu seiner Parteinahme für die streitbare Demokratie. Denn im Grundgesetz, welches nach der Prämisse der streitbaren Demokratie ausgerichtet ist, wird die Möglichkeit eines Parteienverbots ausdrücklich eingeräumt. Den Balanceakt für mehr Liberalität und für die streitbare Demokratie versucht Mannewitz durch unkonkrete Ausführungen zu meistern: "Freiheit nur für jene, die sich innerhalb des gesellschaftlichen Konsenses bewegen ist keine Freiheit." Diese wird jedoch gewährt "- jedenfalls im Rahmen streitbarer Demokratie - nur solange diese Freiheit nicht missbraucht wird, um Freiheit abzuschaffen" (S. 52).

Dass aber einem Demokratieverständnis, in dem den Staatsbürger_innen Freiheit von Staatswegen gewährt (und ggf. entzogen) wird und neben Verbotsmaßnahmen ein präventiver Demokratieschutz angelegt ist, schon ein höchst illiberales Moment innewohnt, reflektiert Mannewitz nicht. Liberalität erschöpft sich in einem Plädoyer dafür, staatliche Repressionsinstrumente maßvoll einzusetzen. Dabei zeigt die Geschichte der BRD, dass bereits die Möglichkeit des Verbots politischer Vereinigungen und Parteien, den offenen Meinungswettstreit stark einschränkt.

Aufgrund der mangelhaften empirischen Basis und der argumentativen Schwächen des Artikels fällt es schwer positive Aspekte hervorzuheben. Selbst historische Begebenheit gibt Mannewitz falsch wieder, um seine Thesen zu unterfüttern. So entspricht es nicht den öffentlichen und politischen Diskussionen, dass nach dem Verbot der KPD 1956 "spätere [Verbots-]Diskussionen doch ausschließlich um rechtsextreme Formationen: um die NPD in den 1960er Jahren, um die REP in den 1980er Jahren" kreisten. Ein Blick in die Protokolle des Bundeskabinetts aus den Jahren 1968/69 zeigt, dass ein Verbot der DKP sehr wohl diskutiert wurde. Am 23. April 1969 heißt es in den Protokollen: "Bundesminister Benda spricht sich dafür aus, einheitlich gegen Rechts [NPD] und Links [DKP] vorzugehen." und weiter: "Der Bundeskanzler hält es politisch nicht für möglich, nur gegen eine Seite vorzugehen." Schon damals hatte die Prämisse der Äquidistanz einen hohen Stellenwert in der politischen Kultur der BRD - und schon damals funktionierte sie ohne eine Begründung am Gegenstand.

In seinem Artikel "Die Nicht-Erkennung des NSU-Rechtsterrorismus" verfolgt Armin Pfahl-Traughber das Ziel, den Vorwurf auszuräumen, die analytische Fixierung der Sicherheitsbehörden auf die Extremismustheorie hätte dieses Nicht-Erkennen befördert. Er argumentiert, dass die vergleichende Extremismusforschung "gerade zur Erkennung des NSU-Rechtsterrorismus hätte führen können" (S. 75).

Nach der richtigen Feststellung, dass weniger die Methode des Vergleichs, als die Auswahl der Vergleichsobjekte und der Vergleichsmerkmale einer Begründung bedürfen, vergleicht er die Mordserie des selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrunds mit dem deutschen Rechtsterrorismus, dem deutschen Linksterrorismus, mit dem Rechtsterrorismus im Ausland und anderen Ideologieformen des Terrorismus im Ausland (v.a. dem Djihadismus).

Überzeugen kann vor allem sein Argument, dass ein Vergleich mit dem "Lasermann" in Schweden, dem "Nagelbomber" in Großbritannien und dem Konzept der "Leaderness Resistance" in den USA "zu richtigen Hypothesen über den rechtsextremistischen Hintergrund der Taten [hätte] führen müssen" (S. 86).

Im Vergleich mit dem Rechtsterrorismus in Deutschland sieht er Ähnlichkeiten in der neonazistischen Ideologisierung und Radikalisierung der Täter, macht aber in der erhöhten Gewaltintensität eine "neue Dimension" (S. 82) in den Taten des NSU aus. Diese These wirkt jedoch nur durch eine wichtige Auslassung in der Analyse Pfahl-Traughbers einigermaßen plausibel. Denn weder berücksichtigt er das Oktoberfestattentat von 1980, noch die gezielten Schüsse des Neonazis Kay Diesner auf einen linken Buchhändler und zwei Polizeibeamte 1997. In einem früheren Artikel begründet er diese Auslassung mit seiner Terrorismusdefinition, nach der Terror immer von einer Gruppe begangen werden müsse( vgl. Pfahl-Traughber, Armin 2012: Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) im Lichte der Entwicklung des deutschen Rechtsterrorismus. In: Jahrbuch Extremismus & Demokratie. S. 180). Da sowohl Diesner als auch Köhler offiziell als Einzeltäter gelten, fließen sie nicht in seine Analyse ein, obwohl sie Ende der 70er bzw. Mitte der 90er Jahre nachweislich in einer gewalttätigen neonazistischen Szene sozialisiert wurden. Nur durch diese formalistisch begründete Auslassung kann Pfahl-Traughber eine "neue Dimension" des deutschen Rechtsterrorismus feststellen.

Es ist Pfahl-Traughber zuzustimmen, dass durch einen Vergleich der damals nicht aufgeklärten Mordserie mit anderen (rechts)terroristischen Taten wahrscheinlich Erkenntnisse über ein rechtsextremes Tatmotiv ermittelt hätten werden können. Hier würden auch die meisten Kritiker_innen der Extremismustheorie nicht widersprechen. Deren zentrale Kritik zielt aber auf die Frage ab, warum ein solcher Vergleich von den Sicherheitsbehörden erst gar nicht in Betracht gezogen wurde. Warum wurde nicht ernsthaft geprüft, ob hinter den Taten Rechtsterroristen stecken könnten? Die zentrale Frage, der Pfahl-Traughber leider nicht nachgeht, ist, ob der analytische Fokus der Sicherheitsbehörden auf die Extremismustheorie verhinderte, dass ein rechtsterroristischer Hintergrund der Taten in Betracht gezogen wurde. Dieser Verdacht wiegt nach wie vor schwer und ist von der Extremismusforschung bis heute nicht ausgeräumt worden.

 

Maximilian Fuhrmann, Universität Bremen


 

 

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